02/07/2024 0 Kommentare
Jenseits des Kirchturms - das Titelthema unserer neuen GEMEINDEZEIT
Jenseits des Kirchturms - das Titelthema unserer neuen GEMEINDEZEIT
# Neuigkeiten aus Emmaus

Jenseits des Kirchturms - das Titelthema unserer neuen GEMEINDEZEIT
Von Jessica Voß. Stellen Sie sich vor, unsere Gemeinde hätte nicht 14.000, sondern nur 14 Mitglieder. Wären Sie dabei und wenn ja, weshalb? Wie würden wir Glauben leben? Wir wollen diesmal in die Welten kleiner christlicher Gemeinschaften eintauchen, zumeist außerhalb unserer Landeskirche. Wir fragen danach, warum und wie Menschen Gott woanders suchen als in der „klassischen“ Kirche. Mit uns gesprochen haben Samuel Coppes von der dorf.kirche düsseldorf, Katharina Haubold – Referentin für Fresh X an der CVJM Hochschule in Kassel und nun Mitarbeitende bei der Fresh X-Initiative „Beymeister“ in Köln-Mülheim – und Jason Liesendahl, nebenberuflicher Theologiestudent, Blogger und Mitglied einer post-evangelikalen Gemeinde in Frankfurt. In Gänze können Sie die Gespräche mit Katharina Haubold, Jason Liesendahl und Samuel Coppes auf unserem Youtube-Kanal ansehen.
Intensiv war die Diskussion in unserer Redaktionssitzung, wie das Thema auf LeserInnen aus Emmaus wirken würde. Wir haben uns dann bewusst dafür entschieden, weil es uns unserer Meinung nach bereichern kann, andere Formen christlicher Vergemeinschaftung wahrzunehmen. Unsere Landeskirche fördert sogar einige dieser neuartigen Gemeinschaften im Rahmen der so genannten „Erprobungsräume“ als „ergänzende Formen des Kirche- und Gemeindeseins“. Es waren intensive und interessante Gespräche, die wir geführt haben. Unsere Gesprächspartner wirkten aufgeschlossen und waren offen, von ihren persönlichen Wegen zu berichten.

Fremd geworden. Begonnen hat bei Samuel alles mit einer Fremdheitserfahrung. „Ich habe ganz viele kirchliche Formen kennengelernt in meinem Leben, aber in keiner kam ich mehr richtig an.“ Er selbst habe eine pietistische, evangelikale Geschichte. Nach ein paar Jahren klassischer Gemeindearbeit habe es ihn „gejuckt“: „Wenn es mir so geht, obwohl ich christlich sozialisiert bin […], dann muss es ganz vielen Menschen auch so gehen, die keinen Bezug haben, aber vielleicht einen Ausdruck suchen für ihre Spiritualität.“ Diese Sehnsucht habe er als Berufung wahrgenommen. Heute leitet Samuel die dorf.kirche düsseldorf, eine Gemeinschaft, die im Rahmen der Erprobungsräume gefördert wird. Aktuell begegnen sich hier zwischen 20 und 25 Menschen im Alter von 25 bis 45 Jahren.

Auch bei Jason begann alles mit einem Fremdeln mit den eigenen, evangelikalen Wurzeln. Er findet sich heute in der post-evangelikalen Bewegung wieder, die es seit den 90ern gibt. Dabei – so wird es im Gespräch deutlich – ist die Abgrenzung vom Evangelikalismus sein Hauptthema und -antrieb. So seien ein historisch-kritisches Bibelverständnis, eine moderne Sexualmoral und gelebte Individualität eine klare Trennlinie zur direktiven, evangelikalen Welt.

Katharina engagierte sich ehrenamtlich als Presbyterin und arbeitete parallel beruflich als Referentin in der Fresh X-Bewegung. Für sie funktioniert der Gedanke „Die Leute kommen zu uns“ nicht mehr. Fresh X verkörpere „die Haltung, aus einer missionalen Art und Weise, also zu den Menschen gehend, Kirche gestalten zu wollen“. Wenn Gott bei den Menschen sein möchte, sollte sich Kirche in ihren Augen als Teil dieser Sendung Gottes verstehen.
Angetrieben. Unseren Interviewpartnern ist eine innere Suche gemein. Für Jason ist ein zentrales Kennzeichen des Post-Evangelikalismus, den Glauben erst einmal zu hinterfragen und mit der eigenen Lebenswirklichkeit in Einklang zu bringen. Dazu gehöre auch eine starke Auseinandersetzung mit Sprache: „Wie können wir unseren Glauben in eine Sprache packen, die zugänglich ist für uns?“
Dieser Antrieb ist gar nicht so weit entfernt von der Gemeinschaft rund um Samuel: „Was unser Ziel ist: Mit einer gewissen Vielfalt zu finden, wo Gott ist auf dieser Welt und wo Gottes Reich stattfindet – eine gemeinsame Suchgemeinschaft zu sein.“ Sein spiritueller Antrieb ist genau diese Suche: „Der Modus, in dem ich bin, ist Mut zu haben, das Gewohnte zu verlassen und eine Unsicherheit auszuhalten. In diesem Raum von Unsicherheit aufzubrechen, da liegt die Kreativität für neue Sachen.“
Gemeinsam weiter. Für Katharina manifestiert sich Vertrauen vor allem auch in der Gemeinschaft mit anderen. Und so würden die Beymeister raus in ihren Stadtteil Köln-Mülheim gehen und sich fragen, was für Leute hier leben und was sie brauchen. „Wenn ich an einen Gott glaube, der mitten in dieser Welt zu finden ist, dann muss auch Kirche mitten in dieser Welt zu finden sein.“ Es sei dann nicht mehr das Ziel, dass die Menschen in bestehende kirchliche Formate wie den Gottesdienst kommen.
Jason wünscht sich so ein Gemeinschaftserleben auch, hatte es als Post-Evangelikaler aber schwer eine Gemeinde zu finden. Es würden ein paar lose Online-Communities entstehen, aber der Wunsch, sich mit seinem eigenen Glauben auseinanderzusetzen sei bei Post-Evangelikalen oft größer als der der Vergemeinschaftung. Angeschlossen hat er sich aber nun zum einen einem landeskirchlichen (!) Hauskreis, in dem er vor allem die „inhaltliche Weite“ der Diskussionen schätzt. Und in Frankfurt hat er auch eine Gemeinde gefunden, die er als post-evangelikal bezeichnet. Vor 15 Jahren ist sie aus einer Jugendkirche entstanden und umfasst heute um die 40 Personen. Er vermutet, dass es in Deutschland davon ungefähr zehn geben würde. Wenn er zu einem Gottesdienst geht, bekommt er erstmal ein Getränk in die Hand, begrüßt die Leute und genießt die familiäre und vertraute Atmosphäre. Oft geht er danach noch mit den anderen aus. Der Gottesdienst an sich sei nicht klar strukturiert, aber es gebe auch klassische Elemente wie eine Predigt, die Feier des Abendmahls oder Gebete. „Eine Stunde Raum für Spiritualität“, nennt Jason das.
Ähnliches erlebt auch Samuel mit den Leuten in der dorf.kirche. Sie möchten eine Verbindung zwischen den Menschen aufbauen, wie man es vom Dorf her kennt – und das mitten in der Stadt. Bei ihrer christlichen Praxis ist die Gemeinschaft flexibel und immer auf der Suche nach neuen Formen. „Das, was sonst im Gottesdienst passiert, probieren wir in unterschiedlichen Formaten aus.“ Jeden zweiten Sonntag gibt es eine partizipative Liturgie, „das heißt eine Art Gottesdienst mit verteilten Rollen“. Auch hier gebe es aber feste Teile wie eine Begrüßung, Gebete oder das Abendmahl.
Die Dorfkirche setzt mit dem zentralen Projekt „Gartenkirche“ aber auch auf ein gemeinsames Erleben und Arbeiten in der Natur. Wer auf den Acker nach Düsseldorf-Hamm kommt, muss zu Beginn erst einmal mit den anderen in der Erde graben. „Dann setzen wir uns hin, haben eine Eingangsliturgie und essen zusammen eine richtige Mahlzeit.“ Neben dieser Abendmahlsfeier probiert die Gemeinschaft aus, wie viele feste Rituale es braucht.

Ohne Kirchturm. Nicht immer ist „Acker-Wetter“ und das Wohnzimmer wurde irgendwann zu klein, und so mussten sich die dorf.kirchler fragen, was für ein Raum zu ihnen passt. Die „Beymeister“ hatten eine Zeit lang ein Ladenlokal in Köln-Mülheim angemietet und sind gerade bewusst ohne Raum im Stadtteil unterwegs. Die Frankfurter Gemeinde verleiht ihrer subkulturellen Prägung auch durch die Raumwahl Ausdruck: Ein Kellerraum, der an eine U-Bahnhaltestelle erinnert, dient als Versammlungsstätte. Was für uns sonntägliche „Kirchgänger“ auf den ersten Blick befremdlich wirkt, fühlt sich für Jason interessanterweise gerade normal an und für seine Glaubenspraxis förderlich: „Für mich ist es gut, wenn ich in einer Umgebung bin, die ich auch aus meinem Alltag kenne.“ Wenn sich der Gottesdienstraum natürlich anfühle und er sich da wohlfühle, könne er sich auf das konzentrieren, was eigentlich da ist.“ Die kirchliche Ästhetik ist für ihn „unfassbar fremd“.
Im Fluss. So klein wie die Gemeinschaften unserer drei Interviewpartner*innen sind, so wenig belastet scheinen sie von all den strukturellen Themen, die uns als landeskirchliche Gemeinde beschäftigen. Aber auch sie haben schon Hochs und Tiefs mitgemacht oder in ihrem Umfeld beobachtet. So entschieden sich die Beymeister 2021 dafür, bisherige Strukturen aufzugeben und neu zu starten. Die dorf.kirche düsseldorf ist vor zwei Jahren mit einer ähnlich ausgerichteten Gemeinde zusammengegangen, der Mosaikgemeinde. Nach dem Auslaufen der Erprobungsräume müsse man aber schauen, wie sich das Projekt weiter finanzieren könne.
Diese Prozesse decken sich mit Jasons Recherchen über freikirchliche Bewegungen: „Traditionen zu verändern, das kostet viel Energie. Es gibt welche, die sich transformieren und welche, die neu gegründet werden. Bei Neugründungen gibt es viele Freiheiten, aber auch wenig entlastende Strukturen.“ Wachse eine Gemeinde wieder und käme es zur Bildung bleibender Strukturen, würden spätestens dann Selbsterhaltungsfragen großen Raum einnehmen.
Katharina betont, dass ihre Initiative gar keine Kirchengründung sein wolle. Ihr Wunsch sei es vielmehr, mit ergänzenden Formen an bestehende kirchliche Strukturen anzuschließen. „Strukturen an sich sind nicht schlecht“, sagt sie. „Schwierig wird es immer da, wo die Struktur ein Selbstzweck wird oder zu der Sache im Widerspruch steht.“
Auf uns geschaut. Am Ende haben wir in den Interviews dann doch auch gefragt, wie unsere Interviewpartner*innen uns wahrnehmen. Jason ist in seinem Urteil sehr direkt: Er erlebe evangelische Gottesdienste oft als One-Man-Show. „Man kommt hin, sitzt und schaut sich an, was der Mensch da vorne macht in dem Talar, und dann geht man wieder.“ Das ist ihm deutlich zu passiv. Zudem sieht er einen Widerspruch zwischen den – wie er findet – zumeist „liberalen Menschen“ und der Liturgie, dem Liedgut, der Sprache und den formulierten Gebeten in Gottesdiensten: „Da kommt mir ganz viel alte Theologie entgegen.“ Er hat sogar ein Wort dafür kreiert: „strukturfundamentalistisch“. Das Dogma, was über allem sei, sei nicht wie im Evangelikalismus die Irrtumslosigkeit der Schrift, sondern das Beharren: „So haben wir das schon immer gemacht.“ Samuel formuliert es vorsichtiger: „Was ich wahrnehme, ist, dass die Ressourcen, die hauptsächlich in bestimmte Formate wie den Gottesdienst fließen, oft auf nur eine Zielgruppe orientiert sind, auch wenn man das nicht so nennt und auch nicht so will.“ Hier fehlt es ihm an Mut, den Gottesdienst als Zielgruppenveranstaltung zu benennen und dafür aber dann auch Ressourcen zu verlagern für andere Zielgruppen.
Katharina wünscht sich, dass wir uns als Kirche neu fragen: „Warum machen wir das? Was bewegt uns? Wo ist das Feuer? Wo die Motivation? Wo erleben wir, das lohnt sich?“ Diesen Gedanken verbindet Samuel mit dem Wunsch nach einem theologischen Brückenschlag: „In allen Traditionen – sei es in der Landeskirche oder in Freikirchen – gibt es Aufbruchsprozesse von Leuten, die wissen wollen, wie Kirche heute sein könnte. In dieser Schnittmenge finde ich Inspiration.“
---
Unsere Interviewpartner
Samuel Coppes // 36 Jahre // Düsseldorf-Benrath // pietistisch-evangelikal aufgewachsen, heute: Pionier-Pastor in der dorf.kirche düsseldorf // https://diedorfkirche.de // www.wirsindmosaik.de
Katharina Haubold // 37 Jahre // Köln-Mülheim // Gemeindepädagogin im Kirchenkreis Köln-Rechtsrheinisch // Referentin für Fresh X an der CVJM Hochschule in Kassel // https://freshexpressions.de/ // www.beymeister.de
Jason Liesendahl // 39 Jahre // Offenbach // Lehrer, nebenberuflicher Theologiestudent mit Forschungsschwerpunkt auf Post-Evangelikalismus // https://jasonliesendahl.de // evangelikal aufgewachsen, heute in post-evangelikaler Gemeinde in Frankfurt aktiv
Ein kleiner Glossar
Erprobungsräume. „Wie kann Kirche neu Gestalt gewinnen? Die Evangelische Kirche im Rheinland schafft Platz für Ideen und fördert Formen kirchlichen Lebens, die ergänzend zur traditionellen Wohnortgemeinde entstehen. Sogenannte Erprobungsräume laden zum Experimentieren ein – mit Mut und großer Kreativität. Das oberste Leitungsgremium der rheinischen Kirche, die Landessynode, hat dafür 2019 ein Entwicklungsprogramm aufgelegt, das zunächst über ein Jahrzehnt reicht.“ (Quelle: ekir.de)
Evangelikale. Als evangelikal wird die missionarische Bewegung genannt, deren Gemeinden für gewöhnlich eine wörtliche Bibelauslegung, eine hohe Geschlossenheit als Gruppe und ein konservatives bis reaktionäres Weltbild verbindet, in dem beispielsweise vorehelicher Sex, Homosexualität oder Abtreibung abgelehnt werden.
Fresh Expressions. „Wie kann Kirche aussehen für Menschen, die nie in bestehende Formen von Kirche und Gemeinde kommen würden, egal wie „modern“, freundlich und offen diese auch sind? Das ist eine der Grundfragen, um die es bei den „frischen“ Ausdrucksformen von Kirche geht, die man auch in Deutschland an vielen Orten entdecken kann. […] Der Name „Fresh X“ leitet sich ab von „fresh expressions of church“ und kommt aus England. Dort begann die Church of England 2004, sich als Kirche zu öffnen und engagierte Christ*innen aus den Gemeinden „auszusenden“ hinaus in die Lebenswelten der Menschen, die nicht in die Kirche kommen.“ (Quelle: www.mi-di.de)
Kommentare