02/07/2024 0 Kommentare
Kirchenmusik ohne Begegnung
Kirchenmusik ohne Begegnung
# Neuigkeiten aus Emmaus
Kirchenmusik ohne Begegnung
Von Karlfried Haas. Wie sehr meine musikalische Arbeit als Kantor dieser Gemeinde, neben dem eigenen Musizieren und Üben, dem Studieren von Partituren und all dem bürokratischen Alltag, davon geprägt ist, mit Menschen unmittelbar in Kontakt zu sein, wird nun in diesen Zeiten sehr deutlich - auch schmerzlich deutlich, denn es fehlt mir sehr. Das Singen im Chor z.B. lebt davon, dass ich als Chorleiter meinen Sängerinnen und Sängern helfe, das Werk, das wir irgendwann aufführen wollen, singen zu können. Da singe ich normalerweise vor und lasse sofort nachsingen, korrigiere den Klang, die Sprachbehandlung, die Tonhöhe und -farbe, dann lasse ich die Stimmen miteinander singen und aufeinander hören, ich gestalte durch meine Zeichengebung unmittelbar das Gesungene und versuche, die Chorsängerinnen und -sänger in meine innere Vorstellung der ganz eigenen Welt, die in der Musik steckt, hineinzunehmen. Dieser Vermittlungsvorgang ist ein fortwährendes unaufhörliches Geben und Nehmen, 2 1/2 Stunden lang. Wir sind ganzheitlich als Menschen dabei beteiligt, wir atmen und bewegen uns, wir schauen uns an, wir hören aufeinander, wir singen und lachen uns an, unsere Stimmen verschmelzen zu einem einzigen großen Ganzen, das den Raum erfüllt und von dem wir ein Teil sind, mittendrin, beteiligt und berührt.
Auch im Gottesdienst ist meine Arbeit als Kantor vor allem davon geprägt, in unmittelbarem Kontakt zu den Menschen zu sein. Zum Beispiel stehe ich beim Einüben von Liedern zu Beginn des Gottesdienstes vor der Gemeinde, rede mit den Menschen, singe vor und höre zu, was sie singen, versuche zu verbessern und für die Lieder zu begeistern. Oft erleben wir eine wachsende Begeisterung, je mehr wir die Lieder beherrschen und eine Welle der Freude und Sympathie erfüllt den Kirchraum, bereit, sich auf Gottes Wort und seine Gegenwart im Gottesdienst einzulassen. Aber auch beim Begleiten der Lieder reagiere ich auf die Stimmung im Raum und den Gesang der Gemeinde, ich antworte musikalisch auf das gerade eben Gesagte oder auf den Inhalt des Liedtextes, ich improvisiere und deute die Lieder aus mit den Farben der Orgel, des Klaviers oder meiner Stimme. Dadurch entsteht etwas ganz Individuelles, nur für diesen Moment Bestimmtes, etwas, das eine enge Verbindung zwischen allen Beteiligten herzustellen im Stande ist und manchmal sogar etwas von der Ewigkeit hereinholt, einen Moment der Transzendenz schafft. Nur jetzt, nur hier. Keine Aufnahme kann das festhalten. Ja, es gibt mehr, als unser begrenzter Horizont wahrnimmt, und wir sind in diesem Moment ein Teil davon.
Doch ohne all die Begegnungen, ohne das Zusammenkommen kann das jetzt alles nicht geschehen und ich muss mir eingestehen, dass ich mit der Situation hadere, denn es fehlt etwas ganz wichtiges in meinem Leben. Miteinander zu musizieren ist etwas völlig anderes, als einen Kopfhörer aufzusetzen und eine Konzertaufnahme anzuhören. Es ist vor allem live, interaktiv und ein unmittelbares Gemeinschaftserlebnis. Ich habe überlegt, was ich nun in der kommenden Zeit, wo wir nicht zusammenkommen können, tun kann, ob man etwas von alledem auf anderem Weg realisieren kann, ob man andere Wege finden kann, wie man die Menschen (kirchen-)musikalisch miteinander in Kontakt bringen kann. Die Ideen im Internet blühen auf und viele Kollegen sind erfinderisch, geben spontane Hauskonzerte per Live-Stream, unterrichten ihre Saxophon-Schüler per Skype oder nehmen auf Video ganze gestellte Chorproben auf, damit die Choristen zuhause derweil üben können. Für das Musizieren in der Kantorei ist das aber leider kein Ersatz, die großen Werke der klassischen Musik kann man so nicht erarbeiten und ich stehe vor einer neuen Herausforderung. Vielleicht kann man das wirkliche Miteinandersingen und -musizieren tatsächlich leider nicht auf anderem Wege herstellen, aber dafür gibt es vielleicht noch Wege und Ideen, was wir stattdessen tun können. Indem ich zum Beispiel diese Zeilen aufschreibe, versuche ich einen Schritt zurück zu treten, auf alles draufzuschauen und einen anderen, vielleicht auch neuen Zugang zur Musik zu finden, zu dem, was uns alle innerlich beim Musizieren erfüllt. Und vielleicht gelingt es mir, die Menschen auch auf diese Weise zu erreichen. Ich finde, es liegt in dieser ganzen krisenhaften Lage auch eine Chance und ich bin gespannt, was mir und uns allen noch einfallen wird.
p.s.: heute morgen erfüllte die Sonne mit herrlichen Farben die stille Matthäikirche. Da dachte ich spontan, Euch einen Gruß von der schönen Ott-Orgel zu senden und für Euch die Choralbearbeitung über "Vater unser im Himmelreich" von Georg Böhm zu spielen, als kleines Zeichen der Verbundenheit in diesen schweren Zeiten.
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