02/07/2024 0 Kommentare
Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
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Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Monat November ist der Abschiedsmonat.
Zum einen so geplant - von uns als Emmaus-Kirchengemeinde, denn so geschehen weitere Schritte, um nach vorne zu gehen, hin zu einem Neuanfang. Emmaus bewegt sich. Veränderung. Aufbruch.
Heute, am 8. November 2020, war die Staffelübergabe für die Versöhnungskirche geplant. Diese kleine feine und moderne Kirche, ist die jüngste unserer Kirchen, die ja mitten im Herzen unserer Kirchengemeinde liegt, auf dem Campus der Diakonie.
Der große Engel, ein Entwurf und auch Geschenk des Künstlers Thomas Schütte, der Engelvorne über dem Altar hängt – er hat Flingern im Blick.
Zum andern: Abschiedsmonat ist der November auch im Kirchenjahr. Und der heutige Sonntag ist geprägt von der Sehnsucht nach Erneuerung. Fragen stellt er uns: Woran erkennen wir, dass Gottes Reich angebrochen ist? Wann wird endlich Frieden sein? „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“, heißt es im Wochenspruch.
Es geht heute um Versöhnung. Als Christen glauben wir: Versöhnung ist möglich. Erneuerung beginnt schon jetzt – und steht noch aus. In dieser Spannung leben wir.
Und wie nötig haben wir Versöhnung! Die Nachrichten der vergangenen Wochen, Islamistischer Terror in Nizza und Wien, die Situation in den USA. Ein abgewählter Präsident, der keinen Anstand hat, der nicht schlichtet und versöhnt, sondern zu Gewalt anstachelt.
Erneuerung - schon jetzt und bitte bald. Wir alle hier sollten Teil der Versöhnungskirche sein.
In vielen Gesprächen rund um unsere Verabschiedung von unseren Kirchen, der Thomas, Versöhnungs- und auch der Christuskirche in der kommenden Woche, habe ich Traurigkeit, Ärger und Frust mitbekommen „Ihr habt uns vergessen“. „Man nimmt uns die Kirche weg!“ und auch „Nein, in die Matthäikirche gehe ich niemals“.
Versöhnung kann man nicht einfordern, einfach Pflaster auf die Wunde „und gut ist.“
Das Entwidmen und die Verabschiedung von Kirchen ist ein schmerzlicher Prozess. Das reißt Wunden. Und oft sind die Wunden ja schon alt, und das Narbengewebe schmerzt zusätzlich.
Nicht oft leisten wir uns, unsere Schwachpunkte offenzulegen.
Sie passen nicht in das Bild, das wir in der Gesellschaft abgeben. Unsere Außenseite, die tägliche Fassade, zeigt wenig Risse, keine Einbrüche, keine schorfigen Stellen.
Wer will das schon sehen. Auch will ich nicht darauf angesprochen werden.
Wie geht man mit Wunden um?
Ich habe mich in der vergangenen Woche fortgebildet, mich mit Kunst und der Bibel beschäftigen dürfen. An einem Tag haben wir uns mit der Sprache des Künstlers Joseph Beuys gewidmet.
Besonders eines der vorgestellten Kunstwerke hat mich beeindruckt. Ich will das gar nicht so tiefgehend beschreiben, aber allein schon der Titel – spricht mich an: Zeige deine Wunde heißt diese Installation aus den 70er Jahren.
„Zeige deine Wunden“? - ist das eine Aufforderung, Schwäche zu zeigen
oder - vielleicht auch Stärke? Die Verletzungen, die brüchigen Verbindungen, die Schattenseiten - sie machen oft mehr als die Hälfte unseres Seins aus.
Sich und anderen das einzugestehen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Wenn wir nur die halbe Wirklichkeit anerkennen können oder wollen, sind wir im Grunde auch nur halb-stark. Die halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge. Halbstark ist ganz schwach.
Zeige deine Wunde. „Zeige sie vor - weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will.“ So kommentierte Joseph Beuys seine Installation, als er sie einrichtete. Der Aktionskünstler, Bildhauer, Kunsttheoretiker und Pädagoge Joseph Beuys, zeitlebens umstritten, anstößig im besten Sinne, wollte berühren und berührbar sein. Die seelische und körperliche Verletzlichkeit des Menschen war sein Thema.
Beuys war selbst ein zutiefst verwundeter Mensch. Der Tod ist sein Weggefährte geworden. Der ihn einholen, heimholen will.
Seine Begegnung mit dem Todspielt sich während des II. Weltkrieges im März 1944 auf der Halbinsel Krim ab.
Beuys, der als Sturzkampfflieger (Stuka –schreckliches Wort) in der deutschen Luftwaffe Dienst leistet, gerät beim Angriff auf eine feindliche Stellung unter Beschuss. Bei einem plötzlich einsetzenden Schneesturm stürzt das Flugzeug ab.
Beuys wird unter dem Heck der Maschine eingeklemmt und verliert das Bewusstsein; sein Kamerad ist tot. Und nun beginnt die Beuys’sche Legende, sein Überlebens-mythos:
Tataren entdecken den verwundeten Flieger und pflegen den meist Bewusstlosen etwa acht Tage, bis er von einem deutschen Suchkommando gefunden und in ein Militärlazarett überführt wird. Die Tataren salben seine schweren Wunden mit tierischem Fett, wickeln ihn in Filz ein, damit er warm wird und Wärme speichern kann. Die Bilder, die die Tage bei den Tataren in ihm auslösten, hat er nie mehr vergessen und in manchen Aktionen auf seine Weise transformiert: Filz und Fett wurden seine wesentlichen plastischen Materialien.
Tatsachenbericht oder Fiebertraum?
Das spielt letztendlich keine Rolle mehr. Denn: Die Wunden sind in seinen Werken präsent und nicht in seinen Erzählungen.
Beuys hat bei dem Absturz einen doppelten Schädelbruch erlitten, er hat den Körper voller Splitter; Rippen, Beine, Arme sind gebrochen, das Nasenbein zertrümmert. Sein Körper ist eine einzige Wunde.
Die seelischen Verletzungen verdrängt er erst einmal.
Wie die meisten Deutschen nach dem Kriege.
Beuys erlebt seinen depressiven Zusammenbruch in den Jahren ab 1954. Die Krise dauert Jahre. Er taucht ab. Als Wiedergeborener und Verwandelter taucht er Jahre später in der Kunstszene wieder auf.
Auch sein äußeres Bild ändert sich. In Art eines Schamanen, eines Wissenden, kleidet er sich fortan: Seine Uniform so, wie wir ihn von vielen Abbildungen, aus Filmen, kennen: die Anglerweste mit den vielen Taschen über dem weißen Hemd, die Jeans und der obligate Filzhut.
Mit seinen Installationen, Vitrinen und Objektsammlungen verleiht er dem zentralen Trauma Nachkriegsdeutschlands künstlerischen Ausdruck.
Würde Beuys heute noch leben, würde er sicher sagen:
Kunst ist Kunst im Zeichen der Flüchtlingsströme, der Brutalität der IS-Kämpfer, von Migrantenschicksalen, von Corona und dem Leben in der Pandemie, im Zeichen der sich verändernden Gesellschaft, in der Kirchen geschlossen werden.
Die Wunden der Geschichte kann Kunst nicht heilen, will sie nicht, kann sie nicht.
Im Gegenteil – sie muss sie sichtbar machen.
„Zeige deine Wunden“- das ist ein zentrales Wort unseres Glaubens.
Das Alte Testament spricht immer wieder davon, dass Gott die Wunden seines Volkes kennt und daran leidet. Israel kann seine ganze Not und seinen Schmerz vor ihn tragen. Hiob tut das so offen und eindringlich wie kaum ein anderer.
Der wird der Wunden wegen von seiner Familie und seinen Freunden gemieden. Die Leidverdrängung hat also eine lange Tradition.
Die Propheten protestierten in Israel dagegen, Leid und Elend zuzudecken.
Im vierten Lied vom Gottesknecht stellt der Prophet Jesaja seinen Zeitgenossen den leidenden Menschen vor Augen:
„Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch...der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab.“ (Jesaja 53,3-4.10)
Dieses Wort kann uns helfen, die Tragweite des Lebens und Sterbens und der Auferstehung Jesu zu verstehen.
Er ist den Verwundeten nachgegangen, er hatte ihnen gegenüber keine Berührungs-angst. Er hat sich ihrer Wunden angenommen, sie am eigenen Leib mitgetragen, bis zum bitteren Ende.
Er hat die wunden Stellen der Menschheit durchlitten.
Er heilt ‐ und das klingt und ist paradox - indem er sich selbst verwunden lässt. Er ist der Prototyp des verwundeten Heilers.
Beuys folgt dieser Spur. Das Kreuz, das Symbol der Christenheit, zeigt in aller Öffentlichkeit, wie tief der Schmerz ist. Es stellt uns vor Augen, dass wir seine Wunden nicht zu verstehen brauchen, sondern wir dürfen den Finger in die Wunde legen. Durch sie ist er zum Ursprung unseres Heilwerdens geworden, zum Heiland der Welt. Er ist der „verwundete Arzt“, wie ihn die frühe Christenheit nennt.
Die Wunden sind ihm eingeprägt. Sie gehören zu ihm, auch nach der Auferstehung. Er verbirgt und verleugnet sie nicht.
Und wir brauchen das auch nicht. Wir brauchen unsere Trauer und unseren Schmerz nicht verstecken. Veränderung ist schmerzhaft.
Wir leben ja weitgehend vom Maß und von der Verlässlichkeit, vom Gleichmaß der Tage, vom Alltäglichen.
Aber diese Zeiten der Pandemie, der Aussetzung des Normalen, erinnert uns auch daran, dass es vielleicht das wichtigste Kennzeichen gereiften Lebens ist, dass es Grenzen kennt und sieht und akzeptiert, dass wir das Mögliche wollen und das ernsthaft - uns jedoch nicht verlieren an allerlei Unmöglichkeiten und Unerreichbarkeiten und Tagträumereien.
Wir kennen Abschiede im Leben, viele sind schmerzhaft. Auch der Abschied von unseren vertrauten Orten, der Thomas-, Versöhnungs- und Christuskirche ist schmerzhaft. Reißt eine Wunde.
„Zeige sie vor - weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will.“
Heilung kann gelingen, wenn wir uns offen begegnen. Uns als Verwundete zu erkennen geben. Da kann Versöhnung wachsen. Lebenskraft.
Niemand soll meinen, das Leben verstünde sich von selbst.
Von selbst versteht sich der Tod. Das Leben ist, wo immer es wird und wächst, ein Wunder, eine große Schöpfungstat Gottes.
Versöhnung, wo immer sie wächst ist unendlich kostbar.
Zeigen wir uns doch. Wo stehe ich? Wofür stehe ich? Was gilt?
Die Fragen bleiben, die Wunden liegen offen.
Bleiben wir zusammen auf dem Weg nach Emmaus. Wir begegnen sicher unserem Heiland.
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