Predigt zum Altjahrsabend

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Predigt zum Altjahrsabend

Was für ein Jahr geht heute Abend zu Ende? Sicherlich ein denkwürdiges Jahr. Eines, an das wir uns noch lange erinnern werden, an seine Schrecken, aber auch an seine guten und hellen Seiten.

Als die Corona-Pandemie im März zu uns kam und wir zum ersten Mal das öffentliche Leben stark einschränkten, da hörte ich immer wieder Menschen ironisch fragen: Braucht das Jahr 2020 noch jemand oder kann das weg? Ich kann diese Frage gut nachvollziehen. Ehrlich gesagt habe ich auch genug von diesem Jahr.

An der Schwelle zum neuen Jahr 2021 stellt sich bei mir zaghaft und leise die Hoffnung ein: Nächstes Jahr wird bestimmt alles besser. Doch was machen wir mit unseren Erinnerungen an das vergehende Jahr und mit unserer mehr oder weniger großen Hoffnung auf das nächste? An der Schwelle von einem zum anderen Jahr halten wir inne und denken nach. Wir lassen nachklingen, was gewesen ist, und bereiten uns auf den Weg ins neue Jahr vor.  

In dieser Situation befindet sich auch das Volk Israel auf seinem Weg in das verheißene Land. Es steht auch an einer Schwelle, genauer gesagt an einem Rastplatz am Rande der Wüste. Hören wir, was die Bibel erzählt:  

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. (Ex 13,20-22; Lutherbibel 2017)  

Etam heißt der Rastplatz am Rande der Wüste, wo sich das Volk Israel auf die Weiterreise vorbereitet.

Lassen wir uns einen Augenblick Zeit auf diesem Ratsplatz. Warum nicht den Kaffee und das Sandwich mitnehmen an einen der bereitstehenden Tische und mal einen Augenblick nachdenken über den Verlauf der Reise. Aus Ägypten kommen wir, aus dem Land der Knechtschaft. Dort gab es weder Freiheit noch Verantwortung für uns. Wir waren Sklaven und taten, was uns befohlen wurde. Nun sind wir auf dem Weg in die Freiheit. Auf dem Weg in ein Land, wo wir hoffentlich gut leben werden, wo wir verantwortlich leben werden.  

Knechtschaft und Freiheit, Wahrheit und Verantwortung das waren auch Themen, die uns im Jahr 2020 beschäftigt haben.

Im Januar erreichten uns erste Nachrichten über eine neuartige Lungenerkrankung aus China. Der 34-jährige Augenarzt Li Wenliang riet dem Personal im Zentralkrankenhaus in Wuhan zu umfangreichen Schutzmaßnahmen. Er wurde deswegen von den chinesischen Behörden scharf verwarnt und dazu gezwungen, seine Ratschläge für falsch zu erklären. Dem repressiven chinesischen Staat war so viel Verantwortung suspekt, er setzte lieber auf Vertuschung und die blinde Gefolgschaft seiner Bevölkerung. Am 6. Februar starb Li selbst an der Krankheit. Er hinterließ ein Kind und seine schwangere Frau.

Für mich ist er einer der wichtigsten Zeugen für gelebte Verantwortung in diesem Jahr. Er ließ sich nicht die Freiheit nehmen, die Wahrheit herauszufinden, sie anderen mitzuteilen und damit Verantwortung für das Leben vieler Menschen zu übernehmen. Was für ein Unterschied zu all‘ denen, die bei Corona-Demonstrationen seit dem vergangenen August laut nach Freiheit rufen, doch damit nur ihre eigenen Interessen meinen und sich im Zweifelsfalle vollkommen verantwortungslos verhalten.  

Ich glaube, dass Gott auf verantwortliche Taten wartet und antwortet.[1] Ich glaube, dass daraus Gutes erwächst, auch wenn es all‘ denen nicht gefällt, die dadurch ihre Macht und ihre Kontrolle über die Menschen gefährdet sehen. Weitere Beispiele dafür gab es in diesem Jahr leider mehr als genug. Nicht nur der chinesische Staat regiert autoritär mit einem pharaonenhaften Herrscher an der Spitze. Die Vergiftung Alexei Nawalnys im August spricht eine ganz ähnliche Sprache. Und die Proteste gegen den belarussischen Diktator Lukaschenko zeigen, dass die Menschen sich auf Dauer Wahrheit und Freiheit nicht rauben lassen. Der Tod von George Floyd im Mai schockierte die Welt und erinnerte uns an den Freiheitskampf der „Black Lives Matter“-Bewegung. Donald Trump indes erzählte weiter seine Lügen bis zuletzt und bekam auch dafür im November die Quittung. Gott sei Dank!

Dass die Erzeugung von Unfreiheit und Angst kein staatliches Privileg ist, das zeigen die verschiedenen Spielarten des Terrors, die sich auch in diesem Jahr wieder gezeigt haben: Im Februar der rechtsterroristische Anschlag in Hanau, im Oktober die Ermordung Samuel Patys in Paris, danach die islamistischen Anschläge in Nizza und Wien.

Im September zeigte sich die Krise der EU-Migrationspolitik in voller Schärfe, als das Flüchtlingslager Moria niederbrannte. Das Drama der vielen Flüchtlinge weltweit geht wohl auch im kommenden Jahr weiter. Durch die Flüchtlingsarbeit unserer Gemeinde und der evangelischen Kirche tragen wir dazu bei, dass es immer wieder kleine Lösungen gibt für die notleidenden Menschen.

Im Juni wurde der FC Bayern zum achten Mal hintereinander Deutscher Meister. Ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht ist, das liegt im Auge des Betrachters.

Der Juli stand ganz im Zeichen der Planänderung. Urlaub in Deutschland war auf einmal in und die Küste in Mecklenburg-Vorpommern schnell überlaufen.  

Am Ende des Jahres kam dann die zweite Welle, die lange angekündigt worden war und doch lange so weit weg erschien. Nun sind wir mittendrin in einer Krise historischen Ausmaßes, für die niemand eine Blaupause hat. Es gibt nicht den einen weisen Mann oder die eine kluge Frau, die uns sagen könnte, was richtig und was falsch ist. Es gibt nur jeden Einzelnen von uns und unsere gemeinsame Möglichkeit, konkret Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Und es gibt die Hoffnung auf den Impfstoff und die Frage, wer wann dran ist – und die ernüchternde Erkenntnis, dass es wohl noch eine Weile dauern wird, bis alles wieder so „normal“ wird, wie es nie war. Denn was würde „normal“ bedeuten nach dieser Erfahrung, nach diesem ganz außergewöhnlichen Jahr 2020?  

Ich hoffe, dass wir als Einzelne und als Gesellschaft weiterhin auf dem Weg in die Freiheit bleiben. Ich hoffe, dass wir allen autoritären Versuchungen widerstehen. Dass wir uns nicht verlocken lassen von dem Wunsch Verantwortung abzugeben an den einen oder die eine, die angeblich alles besser weiß. Die sprichwörtlichen Fleischtöpfe Ägyptens stehen für diese Versuchung, der gegenwärtig immer noch zu viele Menschen weltweit nachgeben. Es ist die Versuchung, ein möglichst bequemes Leben führen zu können, ohne sich selbst allzu sehr den Kopf zerbrechen zu müssen über die Wirklichkeit und unseren Umgang mit ihr. Dagegen hilft nur selber denken auf der Grundlage möglichst guter Informationen. Und es hilft das grundlegende Vertrauen in Gottes Führen und Leiten in der Welt und in unserem Leben. Dieses Vertrauen macht eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen ja gerade nicht überflüssig, sondern gibt diesem Nachdenken und Entscheiden erst recht einen Grund und eine Perspektive.  

Von unserem Rastplatz am Rande der Wüste aus gesehen blicken wir also zurück auf einen Weg voller Schleifen und Verwicklungen, der alles andere als gerade und eben verläuft. Wer weiß, wofür es gut gewesen ist, sagen wir manchmal. Und ich denke und glaube: Es wird uns am Ende näher zum Ziel bringen, näher zu Gott und einem guten Leben vor ihm. Ich gehe in dieses neue Jahr in der Zuversicht, dass Gott uns nicht mehr aufbürdet, als wir tragen können. So wie er uns auf dem Weg von Ägypten bis zu unserem Rastplatz davor bewahrt hat, rückfällig zu werden angesichts all‘ der Schwierigkeiten.

Dazu helfen uns auch die Zeichen, die Gott uns gibt. Zeichen seiner Gegenwart, die uns zeigen: Wir sind nicht allein. Zeichen, die uns helfen, den Weg vor uns zu erkennen und zu gehen. Die Bibel erzählt von einer Wolkensäule und einer Feuersäule, die dem Volk Israel den Weg weist. Sie zeigen, wie Gott mitgeht: Verlässlich Tag und Nacht, ungreifbar für uns und doch präsent, konkret hilfreich für den jeweils nächsten Schritt.  

Martin Luther erkannte in Brot und Wein beim Abendmahl die Zeichen, die der Wolkensäule und der Feuersäule am ehesten entsprechen. Mit diesen Zeichen vergewissert Gott uns immer wieder bin, dass er bei uns ist.

Heute feiern wir kein Abendmahl. Im Online-Gottesdienst ist diese physische Präsenz nicht möglich. Dennoch müssen auch wir nicht ohne hilfreiche Zeichen bleiben. Mit jedem Stück Brot, das wir heute Abend essen, mit jedem Schluck Wein (oder was auch immer), den wir heute Abend trinken, mit jedem Menschen an unserer Seite oder an unserem Telefon spüren wir:

Gott ist bei uns auf dem Weg in das neue Jahr 2021.

Was immer es bringen mag, wir nehmen es aus Gottes Hand.

 

Gebet

Gott, der du mitgehst durch die Zeit,

wir danken dir am Ende dieses Jahres

für die Zeichen deiner Gegenwart

in den Geschichten der Bibel und

in den Geschichten unseres Lebens.

Du hast versprochen, auch morgen

bei uns zu sein:

Mit dem Licht deiner Wahrheit,

mit dem Feuer deiner Liebe,

mit der Hilfe deines Arms.

Darum bitten wir dich:

Stärke alle, die sich überfordert fühlen

von der Verantwortung für ihr Leben.

Bewahre sie davor, die Gestaltung ihres Lebens

anderen zu überlassen.

Wehre allen, die sich die Überforderung anderer

zu Nutze machen und sie betrügen.

Schütze die Journalistinnen und Reporter weltweit,

die wahrheitsgemäß berichten und dafür Verfolgung

in Kauf nehmen.

Behüte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

in den Impfzentren vor Krankheit und Gefahr,

damit sie ihrer Aufgabe nachgehen können.

Sei bei allen, die heute Nacht alleine sind.

Lass sie deine Nähe spüren.

Uns allen öffne die Augen für die Zeichen deiner Gegenwart.

Segne unsere Arbeit im neuen Jahr.

Schenke deiner Kirche Glauben und

lass dein Licht leuchten vor aller Welt.

Amen.


Der Text kann auch als Predigt to go heruntergeladen werden.


[1] Vgl. Dietrich Bonhoeffer: „Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ (DBW 8, 30 f.)

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