Predigt zum Sonntag Kantate

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Predigt zum Sonntag Kantate

"Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, 38und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! 40Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien." | Lk 19,37-40


„Diese frechen Gören sollen alle lieber mal brav zur Schule gehen, statt da freitags auf der Straße rumzulungern!“, brüllt mich ein Post bei Facebook geradezu an. Eine Person auf Twitter pflichtet dem bei: „Die sollen erstmal lernen, wie diese Welt überhaupt funktioniert, und hier nicht einen auf Moralapostel machen! Schwänzen einfach freitags Schule, um alberne Plakate durch die Straßen zu tragen und lächerliche Sprüche zu schwadronieren!“ Der Lärm wird lauter: Vor meinem Bürofenster zieht gerade eine Schar junger Menschen vorbei. Sie tragen bunt bemalte Schilder. Sie heben sie hoch, gen Himmel. Niemand soll sie übersehen können. „Wir schwänzen nicht! Wir kämpfen!“ steht auf einem Schild. „Rette, was Du liebst!“, ruft ein anderes in Erinnerung.

Ende 2019 ruft die Schülerin Greta Thunberg voller Zorn und Entsetzen in die Menge von Entscheidungsträger*innen: „Wir beobachten euch!“ Anfangs lachen so manche Herren und Damen noch jovial. Zu verletzlich ist ihr Stolz. Doch ihr Lachen verhallt ungehört. Die Kraft der Worte lässt sich nicht aufhalten: „Jetzt suchen Sie alle Ihre Hoffnung bei uns jungen Menschen? Wie können Sie es wagen? Sie haben mir meine Träume und meine Kindheit gestohlen mit Ihren leeren Worten! […] Menschen leiden. Menschen sterben. Ganze Ökosysteme brechen in sich zusammen! […] Und alles was Sie tun, ist über Geld und […] über ewiges ökonomisches Wachstum zu reden! Wie können Sie es wagen?“ Wie Greta Thunberg, so spricht auch die Natur eine deutliche Sprache. Doch es ist die Sprache des Leidens, nicht die Sprache des Kampfes. Ein Stück trockener Erde, ein Strahl der Sonne reicht, um die Wälder in Kalifornien in ewigen Brand zu stecken. Zwei Grad Celsius Erderwärmung bis 2035, wenn sich nichts ändert. Das bedeutet weltweite Ernteausfälle. Vier Grad Erderwärmung bis 2065, wenn sich nichts ändert. Dann kollabiert die gesamte Zivilisation. Wenn wir nichts ändern: Sechs Grad Erwärmung bis 2095. Und damit eine unbewohnbare Erde. Erschreckend nah diese Prognosen. Erschreckend, zu wissen, dass manche von uns, manche unserer Kinder, Geschwister und Enkel*innen diese Zerstörung erleben werden. Es sind diese jungen Menschen, die sich wehren, die schreien und wüten. Denn wenn sie schweigen, wer spricht dann?


Die Jünger*innen, von denen uns der heutige Predigttext erzählt, wüten nicht. Sie tanzen und springen und jubeln und loben Gott. Gerade sind sie mit Jesus in Jerusalem angekommen. Sie hoffen darauf, dass Jesus mit ihrer Ankunft ihr Volk befreit von der Fremdherrschaft durch die Römer. Sie hoffen auf Frieden. Aus ganzem Herzen und ganzer Seele hoffen sie darauf, von allem Unheil und Leid befreit zu werden. Mit Jesu Einzug in Jerusalem wenige Tage vor dem Beginn des Pessahfestes scheint die Erfüllung dieser Hoffnungen nah. So nah, dass ihre Herzen vor lauter Freude sprühen. In den Worten des Lukasevangeliums klingt es folgendermaßen: „Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“

Der Ausbruch dieser Freude war jedoch nicht gern gesehen. Zu laut sind Petrus und Jakobus. Zu wild tanzen Maria Magdalena und Martha um den Esel herum, der Jesus den Ölberg hinabträgt. Einigen anderen Frauen laufen Tränen die Wangen herunter. Und sie lachen doch aus voller Kehle. Judas springt wild herum, streckt seine Hände in die Luft und ruft: „Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Wie wundervoll hast Du die Welt gemacht, mein Gott!“ Seine Stimme überschlägt sich. Nur noch ein Krächzen und Jauchzen ist zu hören. Alle – Männer, Frauen, Kinder, Alte – alle gemeinsam fassen sie einander bei den Händen und tanzen um Jesus herum. So viele Rufe werden laut, dass man die Worte nicht mehr auseinanderhalten kann. „Wunder!“, ruft da einer. „Friede!“, ruft eine andere. „König! König!“, jubeln einige Kinder.

Plötzlich treten Schriftgelehrte aus der Menge heraus. Sie blicken finster drein. Alles um sie herum scheint dunkel und wolkenverhangen zu sein. Gemeinsam treten sie an Jesus heran. Mit harscher Stimme spricht einer von ihnen: „Meister, weise doch deine Jünger zurecht!“ Da wird das Stimmengewirr lauter. Jesu Stimme jedoch bleibt ruhig und bestimmt, wenn er erwidert: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Da schwillt das Jubelgeschrei weiter an. Laut dröhnt es in den Ohren der Schriftgelehrten. Auch der Esel fällt ein mit seinem Ruf. Wenn sie schweigen, wer spricht dann?


Besonders heute erlebe ich eine fast unüberwindbare Spannung zwischen wütendem Jubel voller Hass, und dem Schweigen, manchmal aus Angst, manchmal aus Gleichgültigkeit. 53 Schauspieler*innen stellen Videos online, in denen sie in abstoßendem Zynismus, versteckt hinter ironischer Satire, für eine radikale Öffnungsstrategie plädieren. Mit klaren Worten und klarer Position antworten darauf Mediziner*innen und Pfleger*innen. Denn wenn sie schweigen, dann sprechen die Toten.

Bilder aus den Straßen Indiens brauchen keine Worte. Sie bleiben mir im Halse stecken, wenn ich diese sehe. Hier spricht keiner mehr, mein Herz aber schreit.

Die Hoffnung auf einen Impfstoff war groß, lang ersehnt der Ausweg aus dieser Pandemie. „Impffreude“, „Impfstolz“ – Worte die so deutlich zeigen, wie sehr sich die Menschen darüber freuen, geimpft werden zu können. Doch gerade hier ist die Spannung spürbarer denn je! Die Kampagnen gegen die Impfungen auf den Straßen sind laut, verstecken ihren Hass hinter blumigen Worten der Freiheit und des Friedens. Zu entlarvend jedoch die Worte, die der Freude und dem Stolz entgegenstehen: „Impfneid“, „Impfzwang“.

Diese Spannung liegt schwer in der Luft, lässt mich kaum atmen. Ich will jubeln und mich freuen. Ich will Gott danken für seinen*ihren Beistand. Ich will bitten um seinen*ihren Segen für alle Menschen – seien es die Hasserfüllten, die Trauernden, die Verlassenen, die Glücklichen, die Verliebten oder die Einsamen. Ich will, aber kann es nicht.


Wie lässt sich dieses Sprechen und doch Schweigen miteinander vereinbaren? Der Theologe Karl Barth antwortete auf diese Frage in der Zeit des Kalten Kriegs mit den Worten: Aushalten und Ertragen! Das sind große, wenn nicht sogar zentnerschwere Worte. Aushalten und Ertragen. Wie jedoch kann ich diese unauflösbare Spannung zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen Wüten und Jubeln, aushalten und ertragen und dabei nicht zerbrechen? Wie kann ich meinen mir Nächsten gegenüber dennoch nah und zugewandt bleiben? Wie kann ich da auch ganz bei mir bleiben?

Der heutige Predigttext gibt uns ein Versprechen: Jesus ist „schon nahe“. Er ist schon nahe dem Ort, an dem sich alles verändern wird. Er ist schon nahe dort, wo sich alle Hoffnungen bündeln. Er ist schon nahe, die Hoffnungen zu erfüllen. Wo Jesus Christus nahe bei uns ist, da erschallt Jubel, da ertönt ein Grollen. Wo Jesus Christus ganz nah ist, da treffen die Spannungsfelder aufeinander. Wir sind nicht mehr allein im Aushalten der Spannungen. Wir sind nicht mehr allein im Ertragen der Zerrissenheit! Jesus Christus kommt, uns beizustehen!

Diese Nähe Jesu Christi schenkt mir Trost. Aus diesem Trost schöpfe ich Kraft. Diese Kraft lässt mich mutig werden, meine Stimme zu erheben. Da erinnere ich mich an die Worte aus dem Kolosserbrief: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“

Die Worte Christi sind Liebe und Vergebung. In ihnen ist das Reich Gottes. Es ist schon angebrochen, es herrscht schon mitten unter uns. Auch und gerade in der Spannung, die es auszuhalten und zu ertragen gilt. Ohne diese Liebe und diese Vergebung jedoch droht das Aushalten und Ertragen zu erstarren in Frustration, Kälte und Abscheu. Beides – Liebe und Vergebung – rufen laut danach, dass wir im Glauben an Jesus Christus einander begegnen in Erbarmen, Freundlichkeit, Demut und Sanftmut und in Geduld. Alle diese sind große Worte, große Haltungen und große Taten. Doch wenn ich nur das kleine Korn in ihnen suche und der leisen Stimme nachgehe, dann finde ich im Aushalten und Ertragen der Spannung vielleicht und ganz bestimmt das Reich Gottes. Ich nehme mir das Wort der Liebe zu Herzen und beantworte Worte des Hasses mit Worten der Sanftmut. Das wütende Schreien verzweifelter Menschen umfange ich mit meiner Freundlichkeit, die Erbarmen sucht. Geduldig und voller Sanftmut suche ich Wege der Vergebung, wo vorher Anklage den Hass schürte. Denn wenn ich schweige, werden die Steine es verkünden mit lauter Stimme.

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