02/07/2024 0 Kommentare
Gott nimmt das Verlorene an. Predigt für den 3. Sonntag nach Trinitatis – Lk 15,1-10
Gott nimmt das Verlorene an. Predigt für den 3. Sonntag nach Trinitatis – Lk 15,1-10
# Predigten

Gott nimmt das Verlorene an. Predigt für den 3. Sonntag nach Trinitatis – Lk 15,1-10
Ich lasse dich nicht los.
Pffffffff. Zschschschschsch. Bis nach draußen zu ihm ist es zu hören, begleitet vom nervösen Piepsen der anderen Geräte. Pffffff. Zschschschsch. Sein Herz pocht, fast befürchtet er, dass die Pfleger und Schwestern um ihn herum es hören könnten. Der Lärm scheint noch lauter zu werden, so wild strömt das Rauschen seines Blutes durch seine Ohren. Das Toben übertönt das Schwarze Loch, das sich in seinen Bauch frisst. Es ist schon ein Wunder, dass er überhaupt hier sein darf. Lange musste er bei der Oberärztin darum betteln. Wenigstens dieses eine Mal noch ihn sehen.
Seine Hand, die sich sehnsüchtig ausstreckt, lässt das Glas beschlagen. Schwer fällt sie herunter, hinterlässt eine feuchte Spur. Warm legt sich da eine Hand auf seine Schulter. Kurz zuckt er zusammen, fasst sich aber schnell wieder. „Sie lieben ihn sehr, habe ich Recht?“, flüstert Schwester Sonja. Fast hätte er sie gar nicht gehört. Er öffnet den Mund, schließt in wieder. Er schluckt und räuspert sich, schluckt, und kann doch nur nicken. „Lange wird es nicht mehr dauern, bald ist Ihr Mann sicher und wohlbehütet bei unserem Herrgott. Es ist schwer zu glauben, und trotzdem bin ich mir sicher, dass es ihm dort wieder gut gehen wird. Und wer weiß, vielleicht spielt Ihr Mann Gott im Himmel sein schönstes Lied auf der Orgel vor!“, ringt Schwester Sonja um tröstende Worte.
Da regt es sich in ihm. Wo vorher das Schwarze Nichts war, lodern jetzt meterhohe Flammen. „Gott!“, zischt es zwischen seinen zusammengepressten Lippen hervor. „Es gibt keinen Gott!“
Blitzschnell ist die Hand von seiner Schulter verschwunden. Er muss sein Gewicht auf das linke Bein verlagern, was das Feuer noch weiter entfacht. „Passen Sie doch auf!“, faucht er sie an, dreht sich um und flieht. Schwester Sonjas Blick brennt sich ein in seinen Nacken, verfolgt ihn bis weit hinaus.
Blind eilt er durch die Straßen, andere Menschen rauschen an ihm vorüber. „Hey!“, ruft da einer, „Kannst du nicht aufpassen?“ Doch er sieht nichts und er hört nichts.
Sein Kopf ist erfüllt von Wortfetzen, Satzteilen; alles purzelt durcheinander: Wären wir doch nur… Wir hätten… vorsichtiger… Mein Michael! Wie soll ich… ohne dich? Ich…ich…ich kann… nicht. Himmel! Steh mir…ach was! Da ist doch nichts! Kannste voll… verges… Reifen quietschen. Es riecht verbrannt. Spitze Schreie aus allen vier Richtungen. Mit einem Mal halten Raum und Zeit die Luft an. Alles bleibt stehen…
Nur der Lastwagen kommt ihm gefährlich nah. Er braust über die Kreuzung, zugleich scheint es, als stünden seine Räder still. Er setzt weiterhin in Windeseile einen Fuß vor den andere, und doch wirkt es so, als würde er sich unter Wasser bewegen. Plötzlich durchbricht ein Arm die gefährliche Langsamkeit: Wie ein Blitz schießt der Arm in seine Richtung. Wie ein Schraubstock schließt er sich um sein Handgelenk und zieht ihn zurück auf den Gehweg. Wo er vorher seines Weges ging, steht nun rauchend der Lastwagen. Er hätte es nicht mehr geschafft.
Nur langsam erwachen die Geräusche auf der Kreuzung wieder zum Leben. Nur langsam nimmt alles wieder seinen Gang. Er aber, er ist in Sicherheit. Gerettet und gehalten von jemandem, der so schnell wieder verschwunden ist, dass er sich noch nicht einmal bedanken konnte.
Ich trage dich im Arm, wenn dich deine Kraft verlässt.
Mit kurzen Schritten überquert sie die Kreuzung, stets die Uhr im Blick. Sie hat sich fein herausgeputzt, das beste Kleid, die schönsten Sommersandalen, dezente, aber feine Ohrringe, Fußkettchen und Armreif. Dabei wird es nur eine Stunde des Aerobic-Kurses sein.
Eine kurze Atempause, bloß nicht gestresst wirken. Gut bei Atem bleiben.
Neben ihr jauchzt eine helle Kinderstimme. Verborgen von grünen Hecken versteckt sich neben ihr ein kleiner Park, in dem einige Kinder fröhlich spielen. Da steigt ihr der Geruch warmen Grases, Sonnencreme und Eis in die Nase. Etwas in ihr zieht sie in diesen Park. Langsam setzt sie Fuß um Fuß auf den Boden vor ihr, lässt kleine Staubwolken hinter sich. Da, ein schönes Plätzchen im Halbschatten. Hier sitzt sie nun und schaut. Schaut und sitzt. Viele Menschen ziehen an ihr vorüber: Familien mit kleinen Kindern; eine aufgeweckte Kinderbande; eine Mutter stillt ihr Baby. Das dumpfe Geräusch eines Fußballs mischt sich mit dem hellen Ticken der Tischtennisbälle, zwischendrin immer wieder das Quietschen und Zischen der Straßenbahnen. Sie sitzt schon in der Abendsonne, als es passiert: „Mama! Mama!“, ruft ein kleiner Junge, fünf, vielleicht sechs Jahre alt. Als sie sein Rufen hört, zieht ihr plötzlich ein heftiger Stich durch den Magen: Wo ist die Mutter des Kleinen? Warum ist sie nicht da? Suchend schaut sie sich um. Ah, dahinten! Erleichtert setzt sie sich auf. Doch halt! Warum kommt die Mutter nicht zu ihrem Jungen, er ruft sie doch? Es scheint sogar noch schlimmer: Die Mutter dreht sich von ihrem Kind weg und geht.
Erschüttert lässt sie sich wieder nach hinten sinken. Mitten in der warmen Abendsonne sitzt sie und schüttelt sich doch. In ihrem Innern zieht sich alles zusammen. Verblasste Bilder tauchen auf, erst schemenhaft, dann deutlicher. Wo jetzt der kleine Junge sitzt, saß damals ihre Tochter. Die Rufe des Jungen werden die Rufe ihres Mädchens.
Wie auf einen Film, schaut sie auf die Erinnerungen aus lang vergangenen Tagen. Sie sieht, wie sie sich eiskalten Blickes von der Kleinen abwendet und geht. Doch da dreht sie sich wieder um. Mit vor Hass brennenden Augen stürmt sie auf ihre Tochter zu, packt sie an den Haaren und zieht sie auf die Beine. Ohne auf das Schreien, Wimmern und Betteln zu hören, zieht sie die Kleine hinter sich her. Je länger der Weg, desto stummer wird das Mädchen. Zu Hause geht es mit leeren Augen, leerem Magen und leerem Herzen sofort ins Bett. Was bleibt, ist die klirrende Kälte zwischen ihnen beiden. Bis heute.
Nur mühsam kann sie sich von diesen Bildern lösen. Nur langsam kommt sie im Jetzt wieder an. Doch da sieht sie ihn wieder: Der kleine Junge kriecht mittlerweile wild schluchzend auf seinen Knien in die Richtung, in die seine Mutter gegangen ist. Immer wieder ein leises „Mama?“ auf seinen Lippen. In diesem Moment bricht etwas in ihr: Was hatte sie damals nur getan? Was geschieht diesem kleinen Jungen hier heute? Mit einem festen „Nein!“ auf ihren Lippen steht sie auf. Entschlossen schüttelt sie die Bilder der Vergangenheit ab. Mutig streift sie die Gegenwart über. Sie tritt an den kleinen Jungen heran, kniet sich neben ihn, flüstert ihm sanfte Beruhigungsworte zu. Mit weichen Händen umfängt sie den zarten Körper des Kleinen, hebt ihn hoch. Sie geht der Mutter nach. Während sie einen Schritt um den anderen tut, spürt sie, wie der kleine Jungenkörper sich warm an sie schmiegt. Ein paar Schluchzer erschüttern die Kinderbrust noch, doch der Abstand zwischen ihnen wird immer größer.
Die Kälte in ihrem Innern ist noch nicht besiegt, das ahnt sie schon. Doch sie spürt zugleich: Der erste Schritt ist schon getan. In ihr Herz scheint sanft ein Sonnenstrahl. Er lässt die Eismauern erweichen.
Gleichnisse vom Verlorenen
Es nahten sich Jesus aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.
Gottes Macht hält mich in acht.
Sie weiß nicht mehr aus, noch ein. Während sie mit schweißnassen Händen und unter lautem Geraschel ihr Skizzenbuch durchsucht, klingt es in ihrem Kopf wie auf einer Hauptverkehrsstraße zur Stoßzeit: Alles muss richtig sein! Sonst war alles umsonst! Aber was soll das überhaupt bringen? Ich kann ja doch nichts ändern. Die Menschen sind so grausam. Und ich? Ich kann gar nichts tun, denn nichts reicht. Ich bin eben nicht Gott. Aber, ach, Gott schert sich ja eh nicht. Gott schaut doch einfach zu, wie wir Menschen einander zerstören, wie wir in Gewalt, Gier und Heuchelei ertrinken; alles um uns herum zerstören.
Plötzlich werden ihr die Menschen an den Nebentischen zu viel. Wo sie anfangs gebadet hatte in den lebhaften, glücklichen und zarten Stimmen, fühlt sie sich jetzt eingeengt, allein gelassen, einsam unter vielen. Ihre Hände zittern, und doch: Jeder Stift hat seinen Platz, auch der Radiergummi und der Pinsel. Der letzte Schluck Milchkaffee steht schon lange vergessen am Tischrand herum. Skizzenbuch und Etui tauschen den Platz mit dem Geld für Kaffee und Kuchen.
Ziellos wandert sie durch die Innenstadt, kann nicht ganz gehen und nicht ganz bleiben. Doch als sie aufschaut, steht sie plötzlich vor einer kleinen Kirche. Langsam legt sie eine Hand auf die schwere Türklinke des Portals. Nur einmal hineinschauen. Dann schiebt sich plötzlich ihr linker Fuß ins Innere, zaghaft erst, doch selbstbewusst dann. Danach folgte auch ihr restlicher Körper. Hier steht sie nun, kann nicht ganz gehen und nicht ganz bleiben. Also ein weiterer Schritt hinein. Noch einer. Und noch einer. Sie steht vor einem aufgeschlagenen Buch mit blanken Seiten. Ehe sie ganz verstanden hat, was hier passiert, hat sie schon den Stift in der Hand. Die Worte purzeln von ihrem Herzen hinauf aufs weiße Papier:
Ich stoße Gott weg, will nichts mehr von ihm*ihr wissen. Ich will nichts mehr wissen von einem Gott, der sich nicht darum schert, wie es der Welt und ihren Menschen geht. Hiermit erkläre ich Gott den Krieg. Ich stelle eine lodernde Wand der Feuersbrunst zwischen uns auf. Ich verlasse Gott, denn Gott hat auch mich verlassen. Ich bin wütend und fuchsteufelswild, denn nichts berührt diesen Gott. Jetzt bin ich weit weg und unerreichbar. Ich schaffe das auch schon alles allein!
Es raschelt, als sie mit ihren Füßen lange Furchen durch das bunte Laub zieht. Die Sonne steht tief, es duftet nach feuchter Erde und nassem Moos. Die Luft sticht schon etwas in der Nase beim Einatmen. Ihre Hand liegt kühl auf der Türklinke des Eingangsportals der kleinen Kirche. Fest zieht sie an der Tür, tritt festen Schrittes ein. Direkten Wegs geht sie zum Buch mit den leeren Seiten. Es liegt noch immer dort, nur ist es jetzt viel weiter hinten aufgeschlagen als früher. Ihre Augen fliegen über die Seiten, während sie an ihr vorüber rauschen. Da, da ist es! Ihr Eintrag! Aber was ist das? Jemand hat ihre Zeilen um ein paar weitere Zeilen ergänzt:
Trotz dem alten Drachen, / Trotz dem Todesrachen, / Trotz der Furcht dazu! / Tobe, Welt, und springe; / ich steh hier und singe / in gar sichrer Ruh. / Gottes Macht hält mich in acht, / Erd und Abgrund muß verstummen, / ob sie noch so brummen.
Schon bei den ersten Worten gesellt sich die Melodie in ihrem Kopf dazu. Sie beginnt zu summen. Da wird ihr Herz weich und weit. Da werden ihre Schultern plötzlich schwer. Und sie atmet auf.
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