02/07/2024 0 Kommentare
verletzlich - Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis
verletzlich - Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis
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verletzlich - Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext: 1. Mose 4,1-16
Adam schlief mit seiner Frau Eva. Sie wurde schwanger und brachte Kain zur Welt. Da sagte sie: »Mithilfe des Herrn habe ich einen Sohn bekommen.« Danach brachte sie seinen Bruder Abel zur Welt. Abel wurde Hirte und Kain wurde Ackerbauer. Eines Tages brachte Kain dem Herrn von dem Ertrag seines Feldes eine Opfergabe dar. Auch Abel brachte ein Opfer dar: die erstgeborenen Tiere seiner Herde und ihr Fett. Der Herr schaute wohlwollend auf Abel und sein Opfer. Doch Kain und sein Opfer schaute er nicht wohlwollend an. Da packte Kain der Zorn, und er blickte finster zu Boden. Der Herr fragte Kain: »Warum bist du so zornig, und warum blickst du zu Boden? Ist es nicht so: Wenn du Gutes planst, kannst du den Blick frei erheben. Hast du jedoch nichts Gutes im Sinn, dann lauert die Sünde an der Tür. Sie lockt dich, aber du darfst ihr nicht nachgeben!« Kain sagte zu seinem Bruder Abel: »Lass uns aufs Feld gehen!« Als sie auf dem Feld waren, fiel Kain über seinen Bruder Abel her und erschlug ihn. Da sagte der Herr zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?« Kain antwortete: »Das weiß ich nicht. Bin ich dazu da, auf meinen Bruder achtzugeben?« Der Herr entgegnete ihm: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit vom Ackerboden zu mir. Verflucht sollst du sein, verbannt vom Ackerboden, den deine Hand mit seinem Blut getränkt hat! Wenn du ihn bearbeitest, wird er dir künftig keinen Ertrag mehr bringen. Du wirst ein heimatloser Flüchtling sein und von Ort zu Ort ziehen.« Kain erwiderte dem Herrn: »Die Strafe ist zu schwer für mich. Du verjagst mich jetzt vom Ackerland und verbannst mich aus deiner Gegenwart. Als heimatloser Flüchtling muss ich von Ort zu Ort ziehen. Jeder, dem ich begegne, kann mich erschlagen.« Der Herr antwortete: »Das soll nicht geschehen! Wer Kain tötet, an dem soll es siebenfach gerächt werden.« Der Herr machte ein Zeichen an Kain. Niemand, der ihm begegnete, durfte ihn töten. Kain zog fort, weg vom Herrn, und ließ sich im Land Nod nieder. Das liegt östlich des Gartens Eden. (BasisBibel 2021)
I.
Der Ackerboden blieb trocken. Kein grün weit und breit. Kein Korn, keine Beere. Statt durch Äcker voller Leben streifte Kain durch Steinwüsten. Die Sonne brannte ihm im Nacken, unerbittlich. Er sah auf seine Hände. Im Geiste rann ihm noch immer das Blut seines Bruders durch die Finger. Es rann auf den Boden, der nun trocken vor ihm lag. Die Leere blickte mit großen Augen zu ihm auf. „Lauf weg, und kehr nie mehr zurück!“, flüsterte sie ihm zu.
Einen Rucksack hatte er schon gepackt, nur mit dem Nötigsten. Doch es war noch Platz. „Warum liebte Gott Abel so viel mehr als dich?“, rief einer der kantigen Steine ihm zu. Kain nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn. Er steckte ihn in seinen Rucksack. „Du bist ein Mörder! Ein abstoßender Mörder!“, zischte ihm ein anderer Stein entgegen. Auch ihn hob Kain auf und legte ihn in seinen Rucksack. „Niemand wird dich je wieder anschauen können!“ Dieser Stein wog schwer in seiner Hand, kaum konnte er ihn aufheben. „Wie konntest Du nur denken, du könntest dich über Abel erheben, über Gott sogar?“, spottete ein Gestrüpp trockener Dornenzweige. Mit bloßen Händen griff er hinein, legte es zu den Steinen in seinem Rucksack. Ein Stein schrie mit schriller Stimme: „Du bist deines Lebens nicht mehr wert!“ Unter Tränen, Blut und Schweiß hob Kain diesen letzten Stein hinein in seinen Rucksack, band diesen zu und setzte ihn auf seinen Rücken. Ein Ächzen entfuhr ihm. Er tat einen Schritt vor den anderen, dabei immer nur das Stück Straße vor Augen, das seine Füße berührten. Im Nacken, im Ohr stets das Stimmengewirr an Geschrei, Zischen, Flüstern und Spotten.
II.
Innerhalb des Raums der runden Bühne eines Kolosseums baut sich diese Kulisse auf. In der Mitte eine unermessliche Menge an Sand, aufgetürmt zu hohen Dünen. Entlang der rechten Seite der Dünenwüste erstreckt sich karges Ackerland, übersäht mit Steinbrocken, Dornenzweigen und vertrockneter Erde. Auf der linken Seite der Wüste befindet sich ein Stück des Gartens Eden. Man kann es nur erahnen.
Hier bewegt sich nun Kain, dargestellt von einem Schauspieler, ganz eins geworden mit seiner Rolle. Im Hintergrund ist ein Chor zu sehen. Er verleiht den Steinen ihre Stimmen, ihr Schreien, ihr Flüstern, ihr Zischen. Wir werden hier Zeug*innen eines Theaterstücks. Es erzählt uns die Geschichte eines Menschen, den Angst, Neid und Zorn überwältigt haben. In seinem Rucksack trägt er nicht nur die Schuld seiner Angst vor Wertlosigkeit, nicht nur seinen Neid gegenüber Abel und seinen Zorn auf Gott. Kain trägt nun auch die Last des Verbrechens mit sich herum. Es ist die Abscheu, die Menschen zeigen, wenn sie das Mal Gottes auf seiner Stirn erkennen. Es ist die eigene Abscheu, die sein Spiegelbild ihm entgegenschleudert. Es ist auch die Einsamkeit eines Menschen, der vor Scham und Schuld nur noch auf den Boden schauen kann. Dieses Theaterstück, das uns hier im Gewand eines antiken Dramas entgegentritt, offenbart uns unser Menschsein. Es offenbart uns unsere menschliche Existenz in all ihrer Verletzlichkeit und in all ihrem Unvermögen.
III.
Auf der Bühne bewegt sich Kain: Schweren Schrittes zieht er vom Ackerland in die Wüste. Er hinterlässt erst Abdrücke seiner Schuhe im Staub, zieht dann tiefe Furchen im Sand hinter sich her. Schwer lässt er sich auf einer Düne nieder, doch er setzt seinen Rucksack nicht ab. Tief in sich zusammengesunken sitzt er da, murmelt erst schwer verständlich und spricht dann lauter:
Mein geliebter Bruder, mein Herz ist schwer. In mir herrscht ein Sturm, den ich allein nicht zu stillen vermag. Könnte ich doch mit dir sprechen! Ich wandere von einem Ort zum anderen, von einer Wüste in die nächste. Du fehlst hier. Nein, du fehlst mir, so sehr! Meine Last ist so schwer, meine Schultern sind müde. Sie schmerzen, und immerzu sehe ich nur die Füße der Menschen, die Hufen der Esel oder das Kriechtier zwischen den Steinen auf dem Weg. Beugt sich nur ein Mensch zu mir hinunter, gleich schreckt er wieder zurück, sobald er das Zeichen Gottes auf meiner Stirn sieht. Seit Wochen habe ich kein Wort mehr gesprochen, kein freundliches Wort mehr gehört. Mein liebster Bruder, ich vermisse dein herzliches Lachen, deine Großzügigkeit. Wie klang deine Stimme nur, wie? Wie glitzerten deine Augen bei einem Witz, den du machtest? Wie dein Blut durch meine Finger, rinnen alle meine Erinnerungen an dich aus meinem Herzen hinaus. Ich kann sie nicht festhalten. Vor allem nur dein Entsetzen. Es stand dir ins Gesicht geschrieben, als ich über dir stand. Es hat dein Antlitz nie mehr verlassen. Abel, mein liebster Bruder, du solltest hier sein mit mir. Doch ich gehe diesen Weg ohne dich. Im Geiste stehe ich noch immer an deinem Grab, allein, mit blutverschmierten Händen. Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan?
IV.
Verletzlichkeit und Unvermögen. So große Worte. Der amerikanischen Professorin Brené Brown nach zeichnet sich Verletzlichkeit aus durch „Bereitschaft zu Unsicherheit, Risiko und emotionaler Exposition“. Diese Bereitschaft zeigt sich darin, die hohen Mauern der Perfektion und Überlegenheit einzubrechen, den eigenen Wert nicht abhängig zu machen von Ansehen und Meinung anderer, sich selbst und anderen einzugestehen: Ich habe Angst. Ich habe Angst davor, nicht gut genug zu sein. Ich habe Angst davor, dass du mich verlässt. Ich habe Angst davor, nicht stark genug zu sein.
Seine eigene Verletzlichkeit zuzulassen und sichtbar werden zu lassen, erfordert oft viel Mut und Vertrauen. Diesem Mut und dieser Bereitschaft zu Unsicherheit, Risiko und emotionaler Exposition steht jedoch das Unvermögen entgegen. Das Unvermögen speist sich aus der Angst. Es zieht Kraft aus ihr. Wie ein Schattenmonster saugt es die Angst auf, wird größer und immer größer. Das Unvermögen erbaut die Mauern des Perfektionismus aus steinernen Sätzen: Nur wenn Du hart und unnachgiebig bist wie ein Soldat aus Stahl, wirst Du anerkannt. Nur wenn Du perfekt bist, wirst Du geliebt. Nur wenn Du Erfolg hast und gelobt wirst, bist Du etwas wert. Noch abertausende Sätze formen diese Mauern. Doch diese machen einsam. Sie sind unberechenbar. Da reicht nur ein Riss der Enttäuschung, um eine Feuersbrunst der Wut zu entfachen.
Vielleicht hätte es ihm Frieden gegeben.
V.
[1] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/wissen/verletzlichkeit-ist-der-schluessel-zu-allem-86367, 26.08.21.
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