Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahrs

Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahrs

Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahrs

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Predigt zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahrs

Der Psalm 85 lässt an zentraler Stelle einen Hilferuf erklingen: „Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!“ Am Beginn dieser neuen Woche, mit Blick auf die gerade vergangene Woche fällt es mir leicht, in diesen Hilferuf einzustimmen: „Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!“

 Nach mehr als anderthalb Jahren ist die Pandemie immer noch nicht zu Ende. Jetzt steigen die Infektionszahlen wieder, und wir streiten uns gesellschaftlich um das Ob, Wie und Wann der Auffrischungsimpfungen, als stünden wir ganz am Anfang.

Seit 45 Jahren wissen wir, dass der Klimawandel durch den industriellen CO2-Ausstoß verursacht wird und damit menschengemacht ist. Bei der UN-Klimakonferenz in Glasgow gab es viele Initiativen, doch wenig Verbindliches, um daran wirkungsvoll etwas zu ändern.

 Diese beiden Beispiele mögen genügen um zu zeigen: Wir erfahren tatsächlich Unheil heute, das in der einen oder anderen Weise alle Menschen in unserem Land betrifft. Klimawandel und Pandemie mit ihren zahlreichen gesundheitlichen und ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen haben uns aus dem Traum des immerwährenden Fortschritts aufschrecken lassen. In meiner Schultüte steckte Ende der 70er-Jahren noch der gutgemeinte Wunsch meiner Eltern: Wenn du fleißig bist, dann wirst du es zu etwas bringen und es dir gut gehen lassen können in einer Welt, die unablässig zum Besseren fortschreitet.

Dieser Traum hat nicht nur Kratzer bekommen, er ist tatsächlich ausgeträumt. Das Versprechen immerwährenden Fortschritts wird immer wieder reaktiviert, zuletzt in seiner grünen Spielart. Doch viele Menschen, nicht zuletzt die jungen, spüren: Da ist etwas faul an diesen Erwartungen. Vor allem dort, wo sie vorgeblich ohne echte Verhaltensänderungen auskommen. Da fehlt es an Glaubwürdigkeit. Wir ahnen: Es droht uns echtes Unheil.

 Dieses Gefühl: Es gab einmal eine Zeit, da war es besser. Doch hier und heute ist es nicht gut. Dieses Gefühl greift der Beter im Psalm auf und wendet sich damit an Gott: Vormals bist du gnädig gewesen deinem Land, jetzt ist die Zeit des Unheils. Und dann kommt die Frage: „Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?“

 Jetzt könnte ich es mir leicht machen und die Beterin des Psalms belehren. Ich könnte sagen: Dein Gottesbild ist aber noch sehr „alttestamentlich“. Du sprichst ja noch vom Zorn und von der Ungnade Gottes. Wir wissen es heute viel besser. Aus dem Neuen Testament wissen wir: Gott ist gnädig. Und darum hat Gott mit dem Unheil nichts zu tun. Unheil ist keine Ungnade, ist kein Zorn Gottes. Gott steht in Wahrheit an deiner Seite und leidet mit dir.

Das wäre fraglos modern, so zu sprechen. Wir hätten ein sympathisches Bild von einem Gott, der freundlich bei uns ist, aber auch nicht wirklich etwas ändern kann. Und wir könnten unser positives Selbstbild bewahren als Menschen, die immer wieder unverschuldet in Schwierigkeiten geraten und sich dann nach ein bisschen Trost und Mitgefühl sehnen.

Sie spüren vielleicht schon, wie überflüssig, ja irrelevant ein solches Gottesbild tatsächlich ist. Vor allem im Blick auf eine Welt und eine Gesellschaft, in der die Fragen nach Schuld und Verantwortung unablässig gestellt werden. Gerade auch im Blick auf Pandemie und Klimawandel. Und wir erleben ja auch, wie viel Zorn sich in unserer Gesellschaft aufstaut und immer wieder entlädt. Darum ist es wichtig, von dem zu sprechen, was uns bewegt. Sprechen von dem Zorn, der sich in den Menschen staut. Aber auch von dem Zorn, der Gott glühen lässt.

 Denn der Zorn weist uns eine Spur. Der Zorn ist gut und wichtig, weil er uns zeigt: Da ist etwas tatsächlich nicht gut, nicht in Ordnung. „Fridays for Future“ hat diesen Zorn auf die Straße getragen und erkennbar gemacht, was viele Menschen bewegt. Auch die Rede vom Zorn Gottes ist gut und wichtig, weil sie uns zeigt: Wir müssen die zerstörerische, dunkle Seite unseres Herzens, die Anteile, die uns Dinge und Beziehungen kaputtmachen lassen – diese zerstörerische Seite, die wir alle haben, die müssen wir nicht ausklammern aus unserem Verhältnis zu Gott.

Weil Gott uns zur Umkehr einlädt. Und der Beter, die Beterin im Psalm folgt dieser Einladung und spricht: „Willst du denn ewiglich über uns zürnen …? Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!“

Mit dieser Bitte fängt Umkehr, fängt Erneuerung an, auch die Erneuerung der Kirche übrigens. Darum sprechen wir diese Bitte in jedem Gottesdienst:

Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.

Vielleicht sind dies die wichtigsten Worte überhaupt, die in jedem Gottesdienst gesprochen werden.

 Und ja die Worte. Es gibt viele davon, wenn wir Gottesdienst feiern. Auch der Psalm 85 macht Worte, wenn auch nicht sehr viele. Vor allem aber macht der Psalm 85 etwas, was wir fast verlernt haben.

Der Psalm macht nämlich genau in der Mitte eine Pause, er schweigt!

„Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!“

– Pause –

Und dann erklingt aus der Stille, aus dem Hören eine Bitte:

„Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet.“

 Diese Stille und diese Bitte um das Hören-Können überspringen wir oft. Schnell gehen wir über zu den Aktionen. Zu dem, was wir tun wollen.

Das ist einerseits verständlich. Vor allem dann, wenn wir von starken Gefühlen bewegt sind, von Angst und Zorn, von Hoffnung und Mut, dann wollen wir schnell etwas tun. Denn die Zeit drängt ja auch, eigentlich immer.

Doch wer nur Sofortprogramme kennt, kann nicht nachhaltig wirken. Und das hat einen Grund. Denn mit dem ewigen Schnell-Schnell lenken wir uns ab von uns selbst. Wir verlieren das Gespür für unseren eigenen Anteil an der Misere, aber auch für die konkreten Chancen, die wir haben. Beides gerät dann aus dem Blick, und das Ergebnis ist dann oft viel heiße Luft, Erneuerungsrhetorik ohne echte Wirkung.

Sprachforscher sprechen dann von „Plastikwörtern“ (Uwe Pörksen). Das sind große Worte ohne erkennbaren Inhalt. Fast sieht es so aus, als würde auch der Psalm 85 so sprechen: Gerechtigkeit und Friede sollen sich küssen, heißt es.

Das klingt gut! Doch bedeutet es auch etwas?

 Ich glaube: Ob diese Wörter etwas bedeuten oder nicht, das hängt daran, wie wir sie benutzen, ob wir sie uns selbst zu eigen machen.

Wenn wir diese Wörter einfach nur formelhaft nachsprechen, wenn wir sie benutzen, ohne sie wirklich mit uns selbst in Beziehung zu setzen, dann sind es tatsächlich Plastikwörter.

Wenn wir sie aber verstehen und verwenden als Ausdruck unseres Verhältnisses zu Gott, wenn wir sie mit ins Gebet nehmen, mit in die Stille, mit in das Hören, dann fangen sie an zu wirken. Dann erleben wir darin, dass Gottes Hilfe nahe ist.

 „Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet“, sagte einer vor langer Zeit und warf seine Sehnsucht nach Frieden an den Himmel.

Je mehr er dies tat, umso stärker spürte er, wo Unfrieden herrschte in der Welt. Der Zorn in seinem Inneren drohte ihn zu zerreißen. Er fürchtete, den Verstand zu verlieren. Doch da besann er sich. Hatten sie nicht gesagt:

„Seine Hilfe [ist] nahe denen, die ihn fürchten“?

Er schwieg lange und dachte nach. Mit jedem Atemzug spürte er, ob da jemand wäre. Schließlich verstand er: Das bin ja ich. Eine Handvoll Staub. In mir atmet der Ewige, ein und aus.

Da fing er an, nach Spuren Gottes in der Welt zu suchen. Er sah: Jeden Morgen ging die Sonne auf. Und er verstand: Gott ist treu, jeden Morgen neu. Und er versuchte selbst treu zu sein. Anfangs hatte er Probleme damit. Es gab Rückschläge. Er machte Fehler. Doch mit der Zeit gewann er an Übung und wurde sicherer in seinem Urteil und in seinen Schritten. Er sah die Güte Gottes in den Bäumen und Blumen, im Lächeln der Kinder und in jedem Ding, das er selbst schuf. Er hörte auf, andere zu beschuldigen und von ihnen Unmögliches zu fordern. Er arbeitete an sich selbst und widmete sich ganz den eigenen Aufgaben, den eigenen Möglichkeiten. Er versöhnte sich mit seinen Grenzen und dankte für alles, was sein Leben stärke: das Brot am Morgen und der Kaffee, die warmen Schuhe und die wasserdichte Jacke. Er lernte neu das Staunen über die Schönheit der Natur und die Sterne am Himmel. In ihm erwachte der Wunsch zusammenzuwirken mit den Kräften des Lebens. Er freute sich an diesem Wunsch und betrachtete ihn lange und ausdauernd. Er spürte ihn stärker werden in sich und nahm in mit in die Stille. Er berichtete dem Ewigen davon und bat um eine Aufgabe. Lange blieb es still. Doch eines Morgens wusste er, was zu tun wäre.

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